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Dienstag, 23. Juni 2020

Music for the Masses

Music for the Masses

Musik ist seit der verfügbaren Reproduktionstechnik für die Massenproduktion ideal. Die Massenproduktion vereinfacht die Distribution, Vermarktung und den Konsum. Der Konsum von Musik beschränkt sich heute verstärkt auf das Hören des digitalen Produktes, nicht mehr so sehr auf den direkten Erwerb eines Tonträgers. Digitale Produkte haben einen entscheidenden Vorteil gegenüber dem physischen Produkt - ein Musikstück verbraucht sich nicht, es nutzt sich nicht ab und es geht nicht kaputt.

Für alle Produkte gilt: Der Konsument bekommt den Hals nicht voll. Nie. Er will immer MEHR! IMMER!

Der Wunsch nach dem physischen Besitz eines Musikproduktes in Form einer Platte, CD oder sonstigem Träger ist aufgrund der dauerhaften, von Ort und Zeit ungebundenen Verfügbarkeit durch Internet und passende Endgeräte quasi vollständig verschwunden. Einige kaufen dennoch Platten, CDs oder digitale Files - aber wirklich notwendig für den Musikkonsum ist es nicht und den nachfolgenden Generationen wird unsere Platten-Sammlungswahn völlig abstrus vorkommen.

Musik als Kunstwerk?

Da gibt es seit Anfang des 19. Jahrhunderts eine klare Trennung: Es gibt E-Musik (ernste Musik) und U-Musik (Musik zur Unterhaltung). Während es sich bei E-Musik um "kulturell bedeutenden Werken und Leistungen" handelt, ist es heute vor allem die populäre U-Musik, die omnipräsent auf den meisten Medienkanälen vertrieben wird. Die Trennung ist dafür gedacht, um Musikwerke, die sich nicht auf kommerziellen Erfolg stützen können aber im Urteil vieler Hörer interessant und erhaltenswert sind, vor dem Vergessen zu schützen und die Komponisten bzw. (wenn der Komponist schon verstorben ist) die Inhaber der Rechte zu bezahlen.

Die aktuelle Musikwissenschaft spricht sich allerdings gegen eine Trennung aus, denn "die gedachte Zweiteilung musikalischer Kultur [sei] letztlich unwirklich". Und dem kann man nur zustimmen. Immerhin interpretieren klassische Orchester junge Musikwerke aus der Popmusik und DJs verarbeiten klassische Werke in ihren Remixen. Beide Bereiche beeinflussen sich somit gegenseitig und profitieren voneinander.

Musik wird eigentlich erst dann wirklich zu einem Kunstwerk, wenn sich Wissenschaft und Kritiker über die Qualität und die Leistung des Komponisten einig sind. Nur weil jemand ein Orchesterstück komponiert, ist es nicht sofort E-Musik.

Musik und Konsum

Früher waren die Komponisten der klassischen Musik sehr darauf bedacht, dass ihre Stücke kompositionsgetreu aufgeführt wurden. Dies war auch wichtig, da es keine Möglichkeit gab, die Original-Version in allen Facetten festzuhalten. Es gab nur den Notensatz, die Orchesterbesetzung und schriftliches Informationsmaterial für den Dirigenten.
Heute werden Musikstücke extra in sogenannte STEMS oder in Acapella-Versionen (nur die Vocals) aufbereitet, damit andere Künstler die Stücke per Remix in ihrem eigenen Stil interpretieren. Manchmal kann es passieren, dass nur der Remix kommerziell erfolgreich wird, die Originalversion aber nicht. In einigen Bereichen wird vom Interpret sogar gefordert, "sein eigenes Ding" einzubringen und somit das Musikstück durch seinen persönlichen Charakter zu interpretieren, aktuelle Beispiele finden sich in Casting-Formaten wie "DSDS" oder "Voice of Germany". Wir befinden uns somit im Zeitalter der "Postkompositionstreue", in dem stetige Remix-Zyklen weltweit zur Schaffung eines globalen Sounds beitragen.

Streaming-Dienste präsentieren die Musik in endlosen "Strömen" - Leitfaden für den Stream kann eine Band, ein Genre oder die Hörgewohnheiten anderer Service-Nutzer sein. Und in Zukunft können auch Wetter, Aufenthaltsort, Aktivität, Tageszeit, Fortbewegungsmittel und noch viele weitere Daten eine Rolle für die Musikauswahl des Streaming-Algorithmus spielen. Musik wurde mit den Streaming-Diensten zur absoluten Dauerbeschallung degradiert, der Rezipient wird zum Konsument. Musik wird als auditive Firewall gegen die Geräusche des Alltags und gegen das Gequatsche Dritter  genutzt. Die Aussage "Ich habe gerade nicht zugehört" bezieht sich inzwischen nicht nur auf die Reaktion eines vergeblichen Dialogstarts mit einem Kopfhörer-Träger - auch auf die Frage "Welchen Titel hast Du gerade als letztes gehört?" wird der Konsument in den meisten Fällen mit dem gleichen Satz beantworten. Nur ein prüfender Blick auf die Titelhistorie seines Streaming-Dienstes wird die Antwort liefern können. Das Musik-Streaming ist was es ist - eine von Algorithmen erstellte, endlose Kette von Musiktiteln. Ein durch die Streaming-Anbietern gern genannter Vorteil  - durch die Streaming-Dienste würde man neue Musik entdecken - muss korrigiert werden: Es können nur dem Hörer unbekannte Titel präsentiert werden - denn die wirkliche "Neue Musik" ist genau genommen bereits sehr alt (siehe Neue Musik) - wir befinden uns seit über 30 Jahren in der Postmoderne, und da hängen wir auch aktuell noch fest und warten auf den nächsten Meilenstein, der uns das Tor zu einer neue Musik-Epoche öffnen wird.

Freie Künstler und die Filterblase

Die Streaming-Dienste haben ein vorgegebenes Portfolio an Künstlern. Die Streaming-Portale fungieren als Filter. Eine Vorauswahl von Titeln wird über die Zusammenarbeit mit den Labels getroffen. Wer als Künstler nicht im Portfolio ist, wird auch nicht gespielt und somit nicht gehört. Somit entstehen aus der Freiheit des Internets als offene Künstlerplattform für jedermann ganz schnell ein Obrigkeitsdiktat, geschaffen durch Streaming-Dienst Anbietern mit dem Ziel nur Titel anzubieten, die den breiten Massenmarkt bedient - ich würde das als "Fastfood für die Ohren" betiteln.

Auch wenn die musikalische Aktivität in ihrer Gesamtheit - auch aufgrund der technischen Fortschritte und der omnipräsenten Verfügbarkeit der Produktionsmittel - immer mehr zunimmt, bewegt mich doch eine ganz wichtige Frage immer mehr:

Warum soll ich als kreativer Mensch meine wertvolle Zeit opfern um ein digitales Produkt zu schaffen, das weder zum Lebensunterhalt noch zur Begeisterung von Konsumenten dient? Nur für mich selbst? Soll ich mich wirklich mit all den Aspekten der Musikkreation beschäftigen, nur damit ich Musik für mich selbst mache? Wieso sollte ich wissen, wie ein Multikompressor funktioniert? Warum die Funktionen einer DAW erlernen. Wozu wissen, was ein DAC-Chip ist? Und wozu brauche ich noch Quintenzirkel, Harmonielehre und Noten? Reicht es nicht auch, lediglich eine Akustik-Gitarre am Lagerfeuer stümperhaft zu zupfen und von beliebten Songs nur den Refrain zu kennen um Mitmenschen zu beeindrucken? Wahrscheinlich wird auch dann jeder sein Smartphone vor der Nase haben und seine eigene Musik hören.

Quelle des schöpferischen Geistes


Inzwischen kann jeder Vollidiot ohne fundiertem Wissen auf sämtlichen Endgeräten seine eigenen Songs zusammenbasteln. Dazu braucht es nicht viel - ja eigentlich gar kein fachliches Wissen mehr über Komposition, Klang, Ton und Technik. Alles Wichtige hat schon heute die Technik übernommen: Sounddesign, Rhythmikpattern, Melodiegeneratoren, SingBots(Vocaloid), KI-Mastering, etc. Die musikalische Ästhetik ist geprägt durch die Hörgewohnheiten.
Wir müssen uns langsam vom regionalen oder nationalen Musikheldentum verabschieden. Musikalisch regionale oder nationale Eigenheiten und Klänge werden in dem schwarzen Loch des globalen Remix Contents aufgesaugt und zu einer homogenen Klang-Masse zerschreddert. Ein Hit - ein Star - auf allen Radiostationen weltweit läuft der gleiche Kram.

Globaler Remix Content

Er hat schon längst begonnen - der globale Remix-Content läuft auf Hochtouren. Auch wenn lokale Musiker versuchen sich gegen diesen Trend zu wehren - die Anpassung der Hörgewohnheiten durch den globalen Musik-Brei läuft schleichend und unmerklich. Wir haben uns schon an die TR-808, an die Stereobild sprengenden Sylenth Synthies und an zu Tode gerade gebügelte Vocals gewöhnt. Selbst hart verzerrte Klänge oder Reverb-Massaker machen uns nichts mehr aus.

Ich sage auf keinen Fall, das die global vereinigte Musikergemeinschaft etwas Schlechtes ist. Aber ich habe die Angst, das nach Darwin die Stärksten gewinnen werden, und viele kleine Musiker und Labels im Hintergrund-Rauschen untergehen.

Diese Entwicklung des Musikkonsums hat mir jedenfalls einen meiner Gründe genommen, warum ich anfing Musik zu machen - weil es zur Unterhaltung von Mitmenschen und Besucher meiner Live-Auftritte diente. Inzwischen liegt mein Motivationsindex für eine öffentliche Musikpräsentation bei Null. Auch über Musik generell unterhalte ich mich nicht mehr gerne - und übers Musik machen nur noch mit anderen betroffenen Leidensgenossen innerhalb von Selbsthilfegruppen.

Ein anderer Grund war auch mich im Tocotronic-Style über Misstände und Fehlverhalten anderer anzuprangern...ja ich war gekommen um mich zu beschweren! Doch nun bin ich an dem Punkt angelangt, an dem schon viele Künstler waren - durch Reduktion komplexer Zusammenhänge auf die wesentlichen Aspekte wird irgendwann etwas kompliziertes ganz einfach. Bei mir wurde meine Kritik auf ein einfaches "Fick Dich" und "Leck mich" reduziert. Mit diesen magischen Wörtern lässt sich so ziemlich jede Kritik auf den Punkt bringen, und lässt die Interaktion zwischen dem Ich und der Umwelt überflüssig erscheinen.

Die Zukunft

Da fallen mir so einige Dinge ein die noch kommen könnten:

Deep Fakes for Music - Tote Künstler musizieren wieder

Auf Basis bestehender Aufnahmen werde KI Algorithmen trainiert. Als Ergebnis wird Stimme / Klang sowie Songstrukturen und Aufnahmetechnik reproduziert. Und ein Video wird parallel dazu erstellt - Kinderspiel!

Remix yourself

Du willst einen alten Nirvana Song aber von Dua Lipa? Kein Problem - mit Remix yourself gibst Du einfach deine 2-3 Lieblingssongs an, und der KI Algorithmus erstellt Dir mehrere Varianten, in dem er Song-typische Elemente extrahiert und analysiert, dann auf eine Ebene bzgl. Tonart und Rythmus/Tempo bringt (Elastic Pitch / Quantizise) und zum Schluss die Texte sinnvoll miteinander kombiniert und entweder nur einen der beiden Künstler - oder beide im Duett singen lässt. Cooler Shit!

Musiklehrer streiken (und schlagen Alarm)

Die Jugend will keine Instrumente mehr lernen. Warum? Nun, weil es viel zu mühsam ist, zu anstrengend immer zu üben und den Eltern zu teuer. Wer Musik machen will der...naja der nutzt einfach die Remix yourself Software/App, oder den KI Algorithmus von "Google Music" oder "Amazon Sounds" - Musikgenerierung in Echtzeit und auf Knopfdruck. Wer will kann noch ein Genre, Tempo oder Band/Künstler angeben, wonach es klingen soll.

Internet Streaming Revolution

Wird noch etwas dauern, aber die Streaming Dienste übernehmen das Steuer. Nichts geht mehr ohne Sie - das klassische Radio hat ausgedient, nur ein paar Staaten leisten sich noch den Luxus eines allgemein bezahlten "Radiosenders". Musik kommt zu 99.99% direkt aus dem Internet - die Streaming-Dienste erzeugen auf Basis der gehörten Länge eines Stückes (also die Zeitdauer bis wann der Skip-Button gedrückt wird) eine interne Hitliste - die Basis für stetig neue Musik aus KI Algorithmen. Der Musikgeschmack wird global in Echtzeit gemessen und die Parameter der Musik-KI wird gleichzeitig angepasst damit der nächste Song noch weiter an dem Massengeschmack optimiert ist. Genres werden in der KI berücksichtigt und gerne miteinander gemischt. Eigentlich ist die KI wie dafür gemacht - erzeugen, prüfen, korrigieren, erzeugen...

Product Success Prediction

Wie erfolgreich wird ein Produkt auf dem Massenmarkt? Auf Basis von unzähligen Marktforschungs- und Meinungsforschungsdaten und den "Verkaufszahlen" der Konsumprodukte entsteht eine KI Software, die bereits im Entwicklungsstadium den kommerziellen Erfolg eines Produktes vorhersagen kann. Natürlich gibt es immer mal wieder Überraschungen, aber deutlich weniger als "früher" (also heute). Zu dem Begriff "Produkt" zähle ich natürlich auch die "Musiktitel" die in Zukunft durch den Algorithmus geprüft wird und bewertet wird. Das spart immense Kosten in der Produktforschung und Entwicklung und vermeidet kostenintensive Markt-Flops.

Fazit

Spätestens wenn die Menschheit durch die Remix-Algorithmen beim (weißen) Rauschen - oder dem "NoNoise" (aka. Stille)  angelangt ist, hoffe ich das irgend jemand wieder damit anfängt, mit Stöckern auf einem hohlen Baumstamm zu schlagen.