Jamsessions interessanter gestalten
Jamsessions beginnen meist mit einer Vorgabe von einem Musiker - sei es ein Riff, ein Beat, ein Basslauf oder eine Melodie. Andere Musiker steigen mit ein. Spätestens an dieser Stelle gibt es oft ein Problem: Es wird nur ein Riff bespielt - es gibt keine Variationen. Es entwickeln sich keine additiven Parts, Sektionen oder Phasen. Irgendwann wird es langweilig und die Musiker hören enttäuscht auf. Dafür habe ich bereits einen Post geschrieben, der viele Tipps & Tricks zum Thema Jam enthält. In diesem Post möchte ich nun in die detailliertere Analyse einsteigen und etwas über meine Theorie erzählen.Analyse eines durchschnittlichen Jamtracks
Bezogen auf ein Jamtrack ohne vorherige Abstimmung über Struktur oder Töne/Akkorde (im Gegensatz zur Jamsession im Jazz, die auf Standards oder Absprachen basieren) lässt sich ein Jamtrack in Phasen, Sektionen und Parts einteilen.Phasen
Die Phasen sind für alle Jam Teilnehmer gleich Bild: Es gibt verschiedene Phasen, die charakteristisch für Jamtracks sind.Findungsphase (discover phase)
Je nach Fertigkeit, Erfahrung und Können der Musiker kann die Findungsphase mehrere Minuten dauern. Im Durchschnitt beträgt die Findungsphase 30 Sekunden bis eine Minute bei erfahrenen Musikern. Die Findungsphase verkürzt sich, wenn die Komplexität des vorgegebenen Parts gering ist und verlängert sich mit steigender Komplexität. Daher ist es ratsam, mit einem sehr einfachen Part zu beginnen, um die Findungsphase zu verkürzen. Erfahrene Jam-Musiker starten gerne mit einer eigenen Section, die schon aus 2 oder 3 unterschiedlichen Parts besteht.Einigungsphase (unification phase)
Die Einigungsphase ist wichtig für einen Jam und bildet die Basis für alle weiteren Phasen, Sections und Parts.Direkt nach der Findungsphase schließt sich die Einigungsphase an, in der jeder Musiker seinen passenden Part gefunden hat. Im folgenden werde ich diesen Part als Basislinie bezeichnen. Variantionshäufigkeit und Komplexität sind in der Regel in dieser Phase noch relativ gering.
Variationsphase (variation phase)
Nach der Einigungsphase beginnen die Musiker unabhängig voneinander ihre Part zu variieren. Dies charakterisiert die Variationsphase. Der Übergang zwischen Einigungsphase und Variationsphase ist meist fließend. Die Variationsphase ist der größte und längste Teil des Jams. Auch Soli, Breaks und weitere strukturelle Änderungen sind eine Variation und gehören per Definition zur Variationsphase.Endphase (ending phase)
Das Ende kann entweder klar und schnell passieren, oder der Jamtrack läuft aus. Dazu wird Komplexität, Lautstärke und Variation so lange reduziert, bis alle Musiker aufhören.Zum Verständnis meine Definitionen:
- Komplexität: Wie viele Töne werden pro Takt gespielt
- Variation: Wie viele unterschiedliche Töne haben die aufeinander folgenden Takte
Wichtig ist an dieser Stelle zu erkennen, dass ein Jamtrack im Gegensatz zu einem Song eine ganz andere Struktur aufweist. Ein nicht abgesprochener Jamtrack hat selten eine Songstruktur, aber es gibt an manchen Stellen Parallelen. Ein starker Einfluss darauf hat die Teilnahme eines oder mehrerer Sänger an der Jam.
Sections
Durch Sections kreieren die Jam Teilnehmer den Jamtrack Bild: Ein Jamtrack besteht aus unterschiedlichen Sections.Eine Phase kann aus mindestens einer oder mehreren Sections bestehen. Globale Sections befindet sich innerhalb des Jamtracks und der Phasen. Individuelle Sections erzeugt jeder Musiker durch seine Jamteilnahme.
Globale Sections bestehen aus der Summe der individuellen Sections.
Sections stellen ein Bindeglied dar und verbinden die Phasen des Jamtracks mit den Parts der einzelnen Musiker.
Die globalen Sections in einem Jamtrack unterscheiden sich in mindestens einem der folgenden Punkte:
- Unterschiedlicher Sound (nicht Lautstärke!)
- Unterschiedliche Instrumente
- Unterschiedliche Backline (Aktive Musiker)
- Unterschiedlicher Beat
Die individuellen Sections der einzelnen Musiker unterscheiden sich nur in der Kombination verschiedener Parts.
Parts
Parts sind für jeden Jam Teilnehmer unterschiedlich.Innerhalb der individuellen Sections gibt es die Parts - diese können auch als Takt interpretiert werden. Parts unterscheiden sich untereinander anhand ihrer Komplexität (Anzahl der Töne), der Variation (unterschiedliche Töne) und Groove/Feeling (unterschiedliche Tonlängen). Um meine Theorie an dieser Stelle zu vereinfachen, lasse ich die Dimension "Variation" und "Groove" bei Seite und konzentriere mich alleine auf die Dimension "Komplexität", um das Thema zu vereinfachen.
Die Anzahl der Parts pro Section ist klar abhängig vom Jamtrack. Die genannten Beispiel haben 8 Parts pro Section, es können aber auch mehr (12, 16, etc.) oder weniger (4) sein.
Bild: Section A in 8 Parts mit verschiedenen Varianten unterteilt
Zur Vereinfachung: Die Nummer des Parts ist der Grad ihrer Komplexität.
So beinhaltet der Part 1 wenig Komplexität durch sehr wenige Töne, während Part 4 im Vergleich zu Part 1 mehr Komplexität durch viele Töne erhält. Der Part 1 in Section A muss nicht identisch sein zum Part 1 in der Section B. So kann ich die gleiche Melodie in Section A mit einem Klavier spielen, in Section B mit einer Orgel. Obwohl sich nur der Sound verändert, bewirkt der Soundwechsel eine Änderung in der subjektiven Wahrnehmung. Der Part 1 bleibt aber in seiner Komplexität identisch.
Part Variationen in Sections
Nun möchte ich mehr ins Detail einsteigen und auf die verschiedenen Part-Variationen eingehen. Je nach Anordnung der Parts bewirken die Sections entweder Spannung oder Langeweile bei Hörern. Wird ein Part wie im unteren Bild (Section A) mehrmals hintereinander gespielt, entwickelt der Zuhörer eine gewisse Erwartungshaltung, die dann immer wieder erfüllt wird.Bild: Langeweile pur in dieser Section A mit 8 identischen Parts
Das Resultat der stetigen Erfüllung der Erwartungshaltung ist Langeweile.
Um dies zu vermeiden, werden verschiedene Parts genutzt. Es genügen schon kleine Änderungen der Komplexität, um einen Eindruck der Abwechslung zu erreichen.
Bild: Es wirkt spannender und rund, wenn die Section A mit einem Part 2 abgeschlossen wird
Part 2 hat einen höheren Grad der Komplexität als Part 1. Dadurch wird Spannung beim Hörer erzeugt, da die Erwartungshaltung nicht erfüllt wird. Und die Section wirkt in sich rund, da die Section durch einen alternativen Part "abgeschlossen" wird.
Wir gehen noch einen Schritt weiter, und führen Part 3 ein, der eine höhere Komplexität hat als Part 2. Der Ausdruck "höhere Komplexität" ist natürlich relativ - schon eine zusätzliche Note mehr als Part 2 genügt um den gewünschten Eindruck zu erreichen.
Bild: Der Part 3 bereichert die Section A am Ende, der Part 2 rutscht in die Mitte
So entsteht ein kleiner Spannungsbogen, wobei Part 2 die erste Abwechslung bietet und Part 3 den Abschluss der Section abrundet. Wird an den Positionen 4 und 8 der Part 2 verwendet, ist der Spannungsbogen nicht identisch zu der im Bild gezeigten Version.
Dieses Prinzip hat aber seine Grenzen. Bei Übertreibung landet man schnell im Chaos, irgendwo zwischen Karlheinz Stockhausen und wilder 12-Ton Musik.
Bild: Viel ist nicht immer besser - zu viele Parts bringen Chaos und Unruhe
Der Hörer kann keine Erwartunghaltung mehr aufbauen, und die verschiedenen Parts sind zu viele. Dagegen würden 4 verschiedene Parts nacheinander, die 2 Mal wiederholt werden sicherlich besser funktionieren als das Beispiel im oberen Bild .
Wichtig ist ein Gleichgewicht zwischen Wiederholung und Überraschung.
Diese zwei Sections funktionieren super und bestehen nur aus drei bzw. vier verschiedenen Parts.
Bild: Section B in 8 Parts mit drei verschiedenen Parts
Bild: Section C in 8 Parts mit vier verschiedenen Parts
Natürlich gibt es noch viele weitere Kombinationsmöglichkeiten - hier ist eure Kreativität gefragt. Wer das Prinzip der "Phasen > Sections >Parts" verstanden hat, der sollte eine ganz anderes Sicht auf eine Jam erhalten haben.
Die Theorie in der Praxis
Klarheit in den PhasenAls erstes sollte jedem im Jam die Phasen bewußt sein. Haben schon alle Musiker ihre Linie gefunden, oder probiert noch jemand rum? Solange die Basis nicht klar ist, läuft die Findungsphase. Wenn jemand noch rumprobiert, kann er auch schon in der Variationsphase sein, und hat damit die Einigungsphase ignoriert. Um weiteren Ärger zu ersparen, sollte er darauf hingewiesen werden das es noch eine Einigungsphase gibt, in der er seine Basislinie finden soll um einen einheitlichen Ausgangspunkt für die Variationsphase zu haben. Die Einigungsphase dient zudem dazu, den anderen Musikern seine eigene Basislinie zu zeigen - das ist später für die Orientierung untereinander sehr wertvoll! Aus meinen langjährigen Erfahrung kann ich den Tipp geben, das die simpelste Linie die Basis darstellen sollte - zum einen kann man sich später einfacher daran erinnern und schnell zur Basis zurück zu finden, und zum anderen bleibt für die anderen Musiker genug Platz, um in der Variationsphase eigene Varianten zu entwickeln.
Fazit: Überspringt jemand die Einigungsphase und steigt zu früh in die Variantionsphase ein, kann es bei den anderen Jam Teilnehmern zu Verwirrung führen
Besonders in der Einigungsphase ist es extrem wichtig, das die Augen und Ohren nicht nur bei seinem Instrument sind, sondern auch bei den anderen Jam Teilnehmern. Nur so bekommt man mit, wie die anderen Musiker ihre Basislinien gestaltet haben. Folgende Zeichen helfen, um gemeinsam aus der Einigungsphase in die Variantionsphase zu gelangen:
- Ein Victory-Zeichen für (V)ariation
- drei Finger hoch - für die dritte Phase "Variation"
- einfaches Kopfnicken mit Augenkontakt zu den anderen Jam Teilnehmern wenn die eigene Basislinie steht
Steigt jemand unerwartet aus, oder jemand gibt per Handzeichen ein "Stopp", kann durch die selbst entwickelte Basislinie schnell wieder gestartet werden. Wenn alle Jam Teilnehmer ihre Basislinie wissen, spart man sich beim Neustart die Findungsphase komplett. Auch während und nach den Solos kann die Basislinie als Orientierung dienen.
Entwicklung der Varianten
Ausgehend von der Basislinie und mit dem Hintergrundwissen der Part-Einteilung kann man nun beginnen, die Parts zu variieren und abwechselnd einfache und komplexere Parts zu kombinieren, um interessante Sections zu kreieren. Siehe auch obigen Abschnitt "Parts".
Spielen mit Varianten
Es gibt zwei Typen von Musikern - die einen halten ihre Basislinie fest und weichen nur ungerne (oder ungewollt) ab. Die anderen variieren so stark, das die Basislinie nicht mehr erinnert werden kann und sich kein abwechslungsreiches Muster aus einfachen und komplexen Parts ergibt - sie spielen eher durchgängig ein Solo. Beide Verhalten kann man umtrainieren, wenn man sich die Parts und deren Komplexitätsgrad bildlich vor Augen vorstellt. Der Part 1 ist oft die Basislinie - nach 3 mal Part 1 spielt man eine Note mehr oder anders - und schon ist ein zweiter Part erstellt. Mindestens die Section-Variante mit den Parts 1|1|1|2|1|1|1|2 sollte jeder im ersten Jam hinbekommen. Sinnvolle Verkettungen von unterschiedlich komplexen Parts sollte man im Kopf behalten - das ist allerdings einfacher gesagt als getan. Hier hilft nur Übung und stetiges Denken in Parts.
Transponieren von Parts
Andere Akkorde und Akkordfolgen können sehr einfach genutzt werden - es müssen lediglich die Parts bzw. die Basislinie entsprechend transponiert werden. Das Part-Schema sollte unabhängig vom aktuellen Grundakkord erfolgen können. Hier ändern sich dann nur die Töne, nicht aber die Anzahl der Töne, Tondauer oder Tonlautstärke.
Dynamik entwickeln
Die Nutzung der Dynamik als Ausdruck ist in Jams sehr stark von allen Musikern abhängig. Gibt einer der Musiker "Gas" und erhöht seine Lautstärke, ziehen die anderen Jam Teilnehmer meistens mit. Hier läuft die Tondynamik sehr parallel zu der Gruppendynamik der Jam Teilnehmer. Ist einem dieser Gruppendynamik-Effekt bekannt, kann man über sein Spiel die anderen Jam Teilnehmer beeinflussen und auch den Jamtrack. Die Dynamikänderungen sollten aber innerhalb der Sections kontinuierlich passieren, und nicht abrupt - das verwirrt die meisten Jam Teilnehmer eher und funktioniert nur gut, wenn dies abgesprochen ist. Ebenfalls kann ein absichtliches heraushalten aus dem Gruppendynamik-Effekt sehr interessante Ergebnisse erzielen.
Solos
Für Solos ist der Part-Gedanke nicht gemacht - hier kann man sich mit ruhigem Gewissen dem eigenen Spiel voll und ganz widmen. Man sollte sich nur am Ende des Solos an seine eigene Basislinie erinnern - dies ist auch ein Signal an die anderen Jam Teilnehmer, dass das Solo nun abgeschlossen ist. Augenkontakt kann dies zusätzlich unterstützen.Warum eine eigene Theorie?
In der klassischen Musiktheorie spricht man von musikalischen Parametern wie Tonhöhe, Tondauer und Tonlautstärke. Meine Theorie dient zur Beschreibung von Unterschieden innerhalb verschiedener Abschnitte. Mit den musikalischen Parametern kann weder die Anzahl von Tönen innerhalb eines Taktes (Tondichte?) noch die Unterschiede zwischen zwei Takten (Taktdifferenzen?) beschrieben werden. Und Jams basieren nicht auf geschriebenen Noten. Ich habe mir lange Gedanken zur Strukturierung und Beschreibung von Jams gemacht. Die Berücksichtigung der Tonlautstärke verwende ich nicht als Unterscheidungskriterium der Parts, denn es erscheint mir dieser Parameter nicht als sinnvoll. Beispiel: Ein Takt mit identischen Noten wird 8 mal hintereinander gespielt - nur immer lauter. Berücksichtige ich die 3 musikalischen Parameter, hätte ich 8 verschiedene Parts. Meine Theorie sieht darin eine dynamische Steigerung innerhalb einer Sektion, die aus einem einzigen Part besteht.Das musikalische Ergebnis eines Jams kann in Noten beschrieben werden - aber nicht der Prozess und die Struktur - da während der Jam keine Noten existieren.
Wie sind eure Erfahrungen?
Lasst bitte einen Kommentar da und erzählt mir aus euren Erfahrungen mit Jams.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen